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Adventskalender

Tag 7: Adventskalender 2025

Wer bin ich? Die überraschende Antwort eines Dichters aus dem Gefängnis

Die Frage ist so alt wie die Menschheit selbst und doch jeden Morgen neu: „Wer bin ich?“ Vielleicht kennen Sie das Gefühl: Nach außen wirken Sie souverän, gelassen und stark, während es in Ihrem Inneren ganz anders aussieht – unruhig, zweifelnd, vielleicht sogar ängstlich. Diese Diskrepanz zwischen der Fassade, die andere sehen, und dem, was wir selbst fühlen, kann zermürbend sein. Mitten in der dunkelsten Zeit des 20. Jahrhunderts, im Jahr 1944 in einem Militärgefängnis, stellte der Theologe Dietrich Bonhoeffer genau diese Frage. Sein Gedicht gibt uns eine zeitlose Perspektive, die uns hilft, unsere eigene Identität zu ergründen.

1. Die große Kluft: Wer andere in dir sehen vs. wer du wirklich bist

Bonhoeffer seziert in seinem Gedicht eine tiefe, universelle Zerrissenheit. Für die anderen, seine Bewacher, ist er der Mann, der „gelassen und heiter und fest“ aus seiner Zelle tritt, der „frei und freundlich und klar“ spricht und die Tage des Unglücks „gleichmütig, lächelnd und stolz“ erträgt. Er verkörpert das Bild eines unerschütterlichen Mannes, der selbst im Angesicht des Todes die Kontrolle behält.

Doch seinem inneren Erleben steht dieses Bild schroff gegenüber. Hier diagnostiziert Bonhoeffer einen Zustand existenzieller Not: Er ist „unruhig, sehnsüchtig, krank“, er ringt „nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle“, dürstet „nach guten Worten, nach menschlicher Nähe“. Er zittert „vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung“. Dies ist nicht nur die Klage eines Gefangenen; es ist der Schrei einer Seele, die von den tausend kleinen Ungerechtigkeiten und dem willkürlichen Druck erschöpft ist, der einen Großteil des modernen Lebens ausmacht, von der Büropolitik bis zu den sozialen Medien. Am Ende dieser Spirale steht die quälende Synthese seines Konflikts: „Bin ich beides zugleich, vom Menschen ein Heuchler und für mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?“

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank wie ein Vogel im Käfig…

2. Die Gefahr: Wenn deine Identität von der Meinung anderer abhängt

Bonhoeffers Gedicht führt uns zu einer kritischen Reflexion: Wem oder was erlauben wir, unsere Identität zu definieren? Viele Menschen beziehen ihr Selbstwertgefühl aus externen Quellen. Doch was passiert, wenn diese Quellen versiegen? Was geschieht, „wenn wir diese Position plötzlich nicht mehr haben? Sind wir dann jemand anderes?“

Eine fremdbestimmte Identität ist nicht nur ein philosophisches Problem; sie ist die direkte Ursache für eine tiefgreifende, seelenzerstörende Erschöpfung. Die Abhängigkeit von äußerer Bestätigung führt genau zu jenem Zustand, den Bonhoeffer beschreibt: „Müde und zu leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen“. Wir machen uns zu Sklaven von Umständen, die wir nicht kontrollieren können. Dies führt zu der zentralen, ernüchternden Warnung aus der Analyse seines Werks:

Der, dem du erlaubst, dir zu sagen, wer du bist, zu dem beugst du dich hin.

Ob es nun die Arbeit ist, die Menschen um uns herum, eine bestimmte Position oder eine innere Vorstellung von Perfektion – indem wir diesen Instanzen die Macht über unser Selbstbild geben, unterwerfen wir uns ihnen.

3. Die überraschende Lösung: Wahre Identität ist beziehungsorientiert

Bonhoeffer vollzieht einen radikalen Schwenk. Er erkennt die Frage „Wer bin ich?“ als eine Falle – ein narzisstischer Spiegelsaal, in dem man sich nur selbst verliert. Seine Lösung besteht nicht darin, eine bessere Antwort zu finden, sondern eine bessere Frage zu stellen: „Wem gehöre ich?“ Dieser Wechsel von der Definition zur Hingabe ist der Kern seiner befreienden Einsicht.

Am Ende seines inneren Ringens kapituliert sein fragendes Ich und übergibt die Antwort an eine höhere Instanz. Diese Verlagerung ist der Schlüssel.

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!

In dieser Antwort liegt eine Freiheit, die von innen kommt – die Freiheit vom ständigen Urteil anderer und von der noch härteren Selbstkritik. Wenn unsere Identität in einer unerschütterlichen Beziehung verankert ist, können uns die Meinungen und Umstände des Lebens nicht mehr im Kern erschüttern. Das abstrakte Konzept einer „beziehungsorientierten“ Identität wird hier greifbar und zutiefst persönlich: „Wenn du heute seine Stimme hören kannst, du bist mein geliebter Sohn, du bist meine geliebte Tochter, dann findest du in dieser Identität die Freiheit.“ Wie es der Apostel Paulus im Brief an die Galater formuliert, liegt die wahre Freiheit in der Verbindung zu Gott, die uns zu Söhnen und Töchtern macht.

Eine Einladung zur Reflexion

Dietrich Bonhoeffers Gedicht aus der Gefängniszelle ist mehr als historische Poesie. Es ist eine Einladung, die eigene innere Zerrissenheit anzuerkennen, die Gefahr einer fremdbestimmten Identität zu durchschauen und eine tiefere Wahrheit zu entdecken. Der Weg aus dem Labyrinth des Selbst führt nicht zu einer besseren Definition von „Wer bin ich?“, sondern zu der befreienden Erkenntnis, wem wir gehören. Dies ist nicht nur ein theologischer Punkt, sondern ein tiefgreifender psychologischer Wandel, der jedem zugänglich ist, der in einer chaotischen Welt nach festem Boden sucht.

Wenn du heute ehrlich auf dich selbst blickst – wem oder was erlaubst du, dir zu sagen, wer du bist?

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